28. November 2023
HESSISCH OLDENDORF. Wenn 75 in der Pflege und der Medizin Beschäftigte mitten in der Woche aus ganz Norddeutschland zu einer vierstündigen Veranstaltung in der BDH-Klinik anreisen, scheint das Thema gut gewählt zu sein und vielen der Teilnehmenden unter den Nägeln zu brennen.
"Die Rahmenbedingungen erschweren vieles" - "es muss immer mehr dokumentiert werden" - "bei Vollzeitkräften, die ihre Familie ernähren müssen, brennt die Luft" - "es ist eine hohe Belastung, wenn wir in Vollzeit im Schichtsystem arbeiten und neue Kräfte einarbeiten müssen" - "als Teilzeitkraft wird mir kaum Gehör gegeben, obwohl ich über mehr Schwung verfüge" - "die neue Pflegeausbildung macht vieles schwerer" - "die Pflege muss sich neu positionieren - eigentlich ist es schon 5 nach 12...“
All das kommt zur Sprache beim ersten Ethiktag in der Hessisch Oldendorfer Einrichtung, in dessen Fokus "Moral Distress" steht, eine laut Definition von Carina Fourie "psychische Reaktion auf moralische Herausforderungen". Vorbereitet hat die Veranstaltung das Klinische Ethikkomitee unter Federführung der Neurologin Dr. Sandra Bücker und der Klinikseelsorgerin Annette Baden-Ratz. Moralischer Stress kann allein schon durch fehlende Zeit für Patienten aufkommen oder durch die Triage, die Priorisierung, wer das letzte freie Bett bekommt. Entstehen kann er zudem durch Unsicherheit, wenn etwa für einen Komapatienten mit Hirnschädigung keine Patientenverfügung vorliegt - und eine Entscheidung über die weitere Behandlung gefällt werden muss. "Wir müssen uns hier in der BDH-Klinik auch palliativen Aufgaben stellen", betont der Ärztliche Direktor, Prof. Jens Rollnik. "Neurologie und Ethik liegen nah beieinander", bestätigt Dr. Annette Rogge, Palliativmedizinerin und Chefärztin an der Paracelsus Nordseeklinik Helgoland.
In ihrem Vortrag über "Moral Distress - eine Aufgabe für die Klinische Ethikberatung?" zitiert sie eine britische Studie, nach der 37 Prozent der Pflegenden und 15 Prozent der Ärzte aufgrund von moralischem Stress ihren Job verlassen wollen. "In der Pflege Tätige wollen mit gutem Gewissen nach Hause gehen", erklärt Dr. Rogge und weist darauf hin, dass Moral Distress auch zu Burnout, Coolout (Abstumpfung, Kälte anderen gegenüber) und damit zu verschlechterter Patientenversorgung führen kann. Alle an einer Umfrage aus dem Vorjahr teilnehmenden Medizinstudierenden gaben an, Moral Distress persönlich zu kennen. "Wir müssen die Ursache identifizieren, analysieren, im Austausch mit dem Kollegenteam oder unter Einbeziehung eines Supervisors Handlungsmöglichkeiten erörtern - oder eine klinische Ethikberatung aufsuchen", betont die Neurologin. Besonders wichtig für alle Betroffenen sei: "Ich bin nicht allein mit Moral Distress."
An der Klinik in Hessisch Oldendorf gibt es seit über zehn Jahren das Klinische Ethikkomitee, das bei jeder Therapieziel-Änderung zusammenkommt - mit Pflegepersonal, Therapeuten und Ärzten zwecks Beratung auf dem Weg zu einer transparenten Entscheidungsfindung. Als Anlaufstelle für moralisch Gestresste wurde das Komitee bislang wenig genutzt. Dennoch empfindet Prof. Dr. Sabine Wöhlke, die selbst 16 Jahre in der Pflege tätig war, allein die Etablierung eines Ethikkomitees an einer Klinik als entlastend, "weil es im Team bei Entscheidungen hilft". Die Professorin für Gesundheitswissenschaft und Ethik an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg ist stellvertretende Vorsitzende der Ethikkommission für Berufe in der Pflege in Niedersachsen mit Sitz in Göttingen. Diese bundesweit erste Anlaufstelle für Pflegende in ambulanten Diensten, Pflegeeinrichtungen, Krankenhäusern und Kliniken hat das Sozialministerium des Landes Niedersachsen etabliert zur Beratung und Hilfestellung bei ethischen Fragen, etwa zur Pflege von Palliativpatienten. Wer Rat sucht, kann der Ethikkommission sein Anliegen schriftlich vortragen; es wird streng vertraulich behandelt.
"Noch sind Ethikkommissionen keine Pflicht, aber gerade die Pandemie hat deutlich gemacht, wie wichtig die Thematik ist", sagt Prof. Wöhlke und ergänzt: "Moral Distress entsteht, wenn man der Verantwortung, Fürsorge, Gerechtigkeit oder dem Respekt vor Patientenautonomie nicht nachkommen und die Würde des Patienten nicht ins Zentrum stellen kann." Sie weist darauf hin: "Professionelle Pflege umfasst eigenverantwortliche Versorgung, moralisches Handlungsvermögen und den Mut, sich darüber zu verständigen und auszutauschen. Heute haben jedoch mehr als 50 Prozent der Pflegekräfte keine dreijährige Ausbildung mehr hinter sich..." Moralische Belastungen können die Selbstwertschätzung ins Wanken bringen: "Loben Sie mehr, wenn etwas gut gemacht wurde, arbeiten Sie gut im Team zusammen, das ist wichtig gegen den Stress!" Wenn Pflegende im Umgang mit Menschen kalt werden, um Belastendes besser auszuhalten (Coolout), "ist das ein Verrat am Erlernten, an ethischen Prinzipien des Berufes, an den eigenen Ansprüchen", so Sabine Wöhlke und betont: "Moral Distress ist nicht nur ein individuelles Problem, sondern wirkt sich auch auf das gesamte Team aus."
Als Lösungswege nennt sie: "Nehmen Sie wahr, was Ihnen wichtig und wertvoll ist, isolieren Sie sich nicht mit Ihren Bedürfnissen, beziehen Sie das ganze Team ein, nutzen Sie Angebote wie Supervision oder Mediation. Ihre Selbstwertschätzung muss wiederhergestellt werden. Also, weg von der Beschwerde, hin zur Lösung des inneren Konflikts - das muss unbedingt schon in die Aus- und Weiterbildung hineingetragen werden!"
"Vom ersten Moment an habe ich mich heute verstanden gefühlt", meint eine Teilnehmerin am Ausgang und ein Teilnehmer sagt: "Ich habe schon lange nicht mehr eine so gute und wichtige Veranstaltung besucht."
Annette Hensel